Horror Patriae, exhibition view, steirischer herbst ’24, Neue Galerie Graz, photo: steirischer herbst / kunst-dokumentation.com

Horror Patriae
steirischer herbst | 19.9.–16.2.2025

Nationalmuseen sind Geisterhäuser. Gegründet von Reichen und Staaten, die längst nicht mehr existieren, dienten sie dazu, nationale Mythen zu konstruieren und zu bestätigen. Auch wenn sich die Welt ständig verändert, treiben einstiger Größenwahn und kleinliche Ressentiments dort häufig noch ihren Spuk.

Die Ausstellung Horror Patriae ist ein Herzstück des steirischen herbst ’24. Sie setzt sich mit der dunkleren Seite des Patriotismus in all seinen Formen auseinander, und das auf der ganzen Welt. Veranstaltungsort ist das historische Gebäude des Joanneums (heute Universalmuseum Joanneum). Gegründet im Jahr 1811 als Museum der Aufklärung mit einer Bildungsfunktion, war das Joanneum im Zentrum dessen, was der Historiker Benedict Anderson eine „vorgestellte Gemeinschaft“ nennt. Wie Anderson in seinem einflussreichen Buch Die Erfindung der Nation(1983) argumentiert, sind alle Nationalstaaten, wie wir sie kennen, Erfindungen, Werke der kollektiven Vorstellungskraft des Bildungsbürgertums. Museen, ebenso wie Romane, Zeitungen und Theaterstücke, sind Orte dieser Konstruktionsarbeiten.

In dieser Welt imaginärer Staaten war der, den das Joanneum zeigte, besonders flüchtig: Die Steiermark war eher eine Provinz als ein Staat, obwohl Graz zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte – während der Renaissance – die Hauptstadt eines Territoriums namens Innerösterreich war, das Teile des heutigen Italiens und Sloweniens umfasste. Der Gründer des Museums, Erzherzog Johann (1782–1859), förderte den Lokalpatriotismus gegenüber der noch schwammigeren Identität eines riesigen Vielvölkerstaates mit Nachdruck. Dennoch legte er mit seiner überraschend universalistischen Denkweise großen Wert auf die Notwendigkeit, von allen Ländern zu lernen – insbesondere im Bereich des Handwerks und der Technologie. So strukturierte er das Museum als Katalog von Leistungen, die es wert sind, studiert zu werden.

Die spätere Geschichte des Joanneums stand ganz im Zeichen von Spannungen zwischen dem Lokalen und dem Kosmopolitischen. In den 1880er-Jahren entwickelte es sich zu einem angesehenen Museum der „hohen“ Kunst. Allerdings wurde 1913 auch eine Abteilung für das bäuerliche Alltagsleben eingerichtet. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wandte sich die Institution hin zum Deutschnationalismus, der den „Anschluss“ ermöglichte. In den 1950er-Jahren gab es wiederum eine paradoxe Wiederbelebung Innerösterreichs, dieses Mal als rein imaginäres Bündnis.

Unter Bezugnahme auf diese und viele andere lokale und internationale Geschichten entwirft Horror Patriae ein alternatives Museum nationaler Komplexe und dunkler Fantasien. Die Ausstellung kombiniert Werke und Artefakte aus den verschiedenen Sammlungen des Universalmuseums Joanneum mit Arbeiten zeitgenössischer Künstler:innen und ist in mehrere fiktive Abteilungen gegliedert. Ist dieses Museum dysfunktionaler und widersprüchlicher Nationalitäten die einzige Möglichkeit, sich ein Nationalmuseum in einer Zeit wie der unseren vorzustellen, in der patriotische Gefühle positiv aufgenommen werden, auch wenn sie eine dunkle Seite haben?

www.steirischerherbst.at

 

 

 

Horror Patriae
steirischer herbst | 19.9.–16.2.2025

National museums are haunted houses. Established by empires and states that have long since ceased to exist, they served to construct and confirm national myths. Even if the world is constantly changing, former delusions of grandeur and petty grievances of the past are often still at play there.

The exhibition Horror Patriae is a centerpiece of steirischer herbst ’24. It examines a darker side of patriotism in all its forms, all over the world. Its venue is the historical building of the Joanneum (today Universalmuseum Joanneum). Founded in 1811 as an Enlightenment-era museum with an educational function, the Joanneum was the center of what historian Benedict Anderson calls an “imagined community.” As Anderson argues in his inspirational book of the same name, all nation-states as we know them are inventions, works of collective imagination by the educated class. Museums, as well as novels, newspapers, and theater plays, are sites of these construction works.

In this world of imaginary states, the one the Joanneum represented was especially ephemeral: Styria was a province rather than a state, although at some point in history, during the Renaissance, Graz was the capital of a territory called Inner Austria that included parts of current Italy and Slovenia. The museum’s founder, Archduke Johann (1782–1859), strongly promoted local patriotism over the even vaguer identity of a large multiethnic empire. Still, in a surprisingly universalist way of thinking, he stressed the necessity of learning from all countries—notably in the area of crafts and technologies—and structured the museum as a catalog of achievements worthy of study.

The Joanneum’s later history was all about tensions between the local and the cosmopolitan. It saw the institution become a prestigious “high art” museum in the 1880s and, in 1913, open a department of everyday rural life. It witnessed, in the 19th and early 20th centuries, the museum’s turn to Pan-Germanism, which facilitated the Anschluss and, in the 1950s, the paradoxical revival of Inner Austria, this time as a purely imaginary alliance.

Referring to these histories and many others local and international, Horror Patriae imagines an alternative museum of national complexes and perverse imaginaries. The exhibition combines works and artifacts from the Universalmuseum Joanneum’s various collections with works by contemporary artists and is organized into several fictitious departments. Is this museum of dysfunctional and contradictory nationhood the only way to imagine a national museum in a time like ours, when patriotic sentiments are getting good press, even if they have a darker side?

www.steirischerherbst.at